Leseprobe “Bastard”

DER FRÜHLING WAR spät gekommen in diesem Jahr. Die Kirschbäume in der Ebene waren noch nicht ausgeschlagen, doch wie immer waren die Stech­mücken schon geschlüpft und begrüßten tanzend die ersten freund­lichen Tage des Jahres.
Umodine leuchtete strahlend weiß in der Frühlingssonne. Seit das Herr­scherhaus Ælmeth ausgestorben war, oblag es dem jeweiligen Hohen König Morads, diesen Teil der Vereinigten Königreiche mitsamt seiner mächtigen Burg zu verwalten, und Celdrick von Leven, gewählter Hochkönig auf Lebenszeit, erfüllte diese Pflicht zur allgemeinen Zufriedenheit der Bevölke­rung Ælmeths. Er hatte Umodine als Ort der Vermählung seines ältesten Sohnes mit der Prinzessin der Thanmark ausgewählt, ganz so wie er Alanna zur künftigen Gemahlin Kyes bestimmt hatte, als beide noch Kinder waren.
Gewiss, Kye hätte sich seine Braut lieber selbst gewählt, doch als Thron­folger Levens und Sohn des Hohen Königs musste er der politischen Um­sicht seines Vaters Platz einräumen, denn die Mark durfte als wichtiger Vor­posten im Norden der Allianz der Königreiche nicht verloren gehen.
Vor drei Monaten schon waren Kye und seine schöne Mutter Ælfwen auf der Burg eingetroffen, um die Hochzeitsfeierlichkeiten und die Beherber­gung der unzähligen Gäste und ihrer Gefolge vorzubereiten, doch dann hatte Kye dem Berg von Aufgaben unversehens allein gegenübergestanden.
Wenige Tage nach ihrer beider Ankunft hatte ein Spähtrupp seinen halb­toten Bruder Conn nach Umodine gebracht. Die Sorge seiner Mutter hatte seit dieser Zeit einzig dem Überleben des Jüngeren gegolten. Ælfwen hatte erwartet, dass Kye allein zurechtkam, und er hatte sie nicht enttäuscht. Die Gebäude waren neu gekalkt, die Zimmer gerichtet, Speisen und Getränke bis unter die Decken gelagert. Außerhalb der Mauern, am Rande der ausufern­den Hauptstadt, hatte er ein gigantisches Zeltlager eigens für die Gefolge der edlen Gäste errichten lassen, mitsamt Feldküchen und Ställen.
Die Feier mochte beginnen.
Kye war schon seit Tagesanbruch im Sattel. Nach all den Wochen der Mühe war dies der erste Morgen, an dem er tun und lassen konnte, was er wollte. Schon weit vor Sonnenaufgang erwacht, war es ihm gelungen, sich aus der Burg zu stehlen, bevor man wieder begann, ihn mit lästigen Fragen zu plagen. Er war westwärts geritten durch die Felder und Gärten, in denen Conn und er als Kinder Obst gestohlen hatten. Von dort aus war er auf einem kürzeren Weg zurückgekehrt. Jetzt stand er auf einem Hügel unweit Umodines und schaute sich um. In seiner unmittelbaren Nähe flog jubilie­rend eine Feldlerche auf, das Wappentier seines Heimatlandes Leven, das auch seinen Namen auf diesen Vogel zurückführte. Im Südosten lag die Samratha-Bucht, die den größten Teil von Levens Süden von dessen Norden trennte. Der Frühling war gekommen, das Meer leuchtete blau wie der Himmel. Er vermisste den bleigrauen Winter jedenfalls keinen Augenblick. Kye ließ seinen Blick nach Norden schweifen. An einem klaren Tag wie heute konnte man sogar bis zu den schneebedeckten Gipfeln Rhageds sehen.
Von dort irgendwo war Conn zurückgekehrt, geflohen aus Norregaard, mit Pfeilwunden geradezu übersät, dem Tode näher als dem Leben, zottelig, unrasiert und ungewaschen. Aber der Bruder hatte nicht nur das Aussehen eines Nordmannes, nein, er besaß auch dessen üble Manieren.
Sie hatten ihm ohne die übliche Läuterung die Schwertleite verliehen, da sie um sein Leben fürchteten. Kaum ein wenig genesen, hatte der frisch ge­backene Ritter jedoch begonnen, mit lauter Stimme sämtliche Bewohner des Flügels, in dem sein Krankenlager stand, zu schikanieren. Natürlich, derart an das Bett gefesselt, langweilte er sich fürchterlich, doch Kye fand, dass dies absolut keine Entschuldigung für Conns schlechtes Benehmen war. Seltsa­merweise jedoch verübelte niemand außer ihm dem jungen Mann die unver­frorene Rücksichtslosigkeit, die er an den Tag legte. Nachdem er meh­rere Jahre verschollen gewesen war und allgemein als tot gegolten hatte, hatten sie ihn nach seiner Rückkehr zum Helden gemacht, obwohl keiner recht wusste, ob die Gerüchte, die auf der Burg kursierten, wirklich der Wahrheit entsprachen. Kye selbst war jedenfalls der Überzeugung, dass nichts daran war. Conn war einfach viel zu jung, um all das erlebt zu haben, was man ihm andichtete. Und Conn selbst? Nun, der Bruder gab nichts zu, er leugnete aber auch nichts, sondern sonnte sich nur in der allgemeinen Beliebtheit.
Schon wollte Kye den gedankenverlorenen Blick abwenden, als er auf dem Weg, der von der Burg Ælmeths aus in die Thanmark führte, zwei Rei­ter entdeckte, die in vollem Galopp auf Umodine zu­spreng­ten. Sollte es sein, dass der Brautzug schon früher als erwartet eintraf?
Und er stand hier, staubig, verschwitzt und in seinen ältesten Kleidern!
Hastig schwang er sich auf seinen Braunen, den er an einem nahen Ge­büsch angebunden hatte, und jagte ins Tal. Es würde ihm kaum gelingen, vor den Reitern auf der Burg zu sein, doch wenn er den Dienstbotenaufgang nahm, würde er wenigstens in seinen Gemächern sein, bevor man die Boten zu ihm brachte.
Endlich polterten die Bohlen der Zugbrücke unter ihm. Er trieb den Wallach unter dem Tor und dem Torhaus hindurch, sprang aus dem Sattel und warf dem nächstbesten Burschen die Zügel zu. Dann stürmte er die enge Wendeltreppe hinauf. Am oberen Ende stieß er eine Magd mit einem Tablett um und Geschirr und Speisenreste fielen polternd die Treppe hinab. Außer Atem erreichte er sein Gemach, rief nach seinem Diener und wollte sich schon eigenhändig die besudelten Kleider vom Leib reißen, als seine Mutter eintrat. Erschrocken ob ihrer bleichen Züge schob Kye ihr einen Sessel hin und sie sank dankbar hinein. Ælfwens Miene war besorgt und betroffen. Seine erste Frage galt denn auch gleich seiner Braut. Die Königin nickte auf­seufzend: Tholand ließ ihnen mitteilen, dass seine Tochter seit zwei Tagen spurlos verschwunden war und Grund zu der Annahme bestand, dass sie von den Wikingern entführt worden sei.

Kye zog sich mit dem Überbringer der schlechten Nachricht, der Königin und Alik, dem Freund Celdricks und ehemaligen Erzieher Conns, zurück. Sie berieten beinahe eine Stunde und nun gab es erste Anzeichen dafür, dass ein baldiger Aufbruch des Thronfolgers bevorstand. Jetzt erschien der alte Alik am oberen Ende der Treppe. Scharfe, graue Augen blickten über einer enor­men Nase in die Runde. Die Gespräche im Burghof verstummten. Alle Ge­sichter wandten sich dem grauhaarigen Ritter zu. Mit ruhiger Stimme nannte Alik zwölf Namen, und die angesprochenen Edelleute lösten sich augen­blicklich aus der Menge, um dem Alten zu folgen.

Von alledem wusste der junge Mann im entlegensten Teil der Burg nichts. Er war vor einer knappen halben Stunde erwacht und harrte mit wach­sender Ungeduld dem Erscheinen seiner Mutter, die ihm zu einem Brettspiel zugesagt hatte. Es war nicht Ælfwens Art, sich zu verspäten. Etwas Wichti­ges musste sie aufgehalten haben.
Conn seufzte. Auf Aliks Anraten hielt man jegliche Neuigkeit von ihm fern und sein alter Ziehvater stellte sicher, dass seiner Anordnung genau­es­tens Folge geleistet wurde. Wäre es nach Conn selbst gegangen, wäre er schon seit Wochen wieder auf den Beinen, aber Alik hatte ihm noch zur Bett­ruhe geraten und Conn schätzte die Heilkünste des Alten über alle Maßen.
An diesem Mittag jedoch war alles anders: Ælfwen hatte ihn versetzt und Bücher mochte er erst recht nicht mehr sehen. Folglich langweilte er sich beinahe zu Tode. Zudem schmerzte sein Rücken vom langen Liegen erbärm­lich.
Ein Gedanke spukte schon seit Tagen in Conns Hirn und nun würde er ihn in die Tat umsetzen: Aufstehen! Wertschätzung hin oder her – ein Verbot Aliks zu umgehen, bereitete ihm immer noch ein kindliches Vergnügen. Eine Weile lauschte er angestrengt, ob jemand kam, doch die Geräusche, die an sein Ohr drangen, klangen dumpf und weit entfernt. Er wollte es nicht riskie­ren, dass der Alte ihn erwischte.
Conn richtete sich vollends in den Kissen auf und schwang seine Beine aus dem Bett. Augenblicklich befiel ihn ein starker Schwindel. Seine Wun­den ziepten und spannten. Mit beiden Händen hielt er sich am Bettrand fest, riss die Augen weit auf und atmete tief durch. In seiner Phantasie war alles viel einfacher gewesen!
Schließlich erhob er sich und ging schwankend hinüber zu der großen Truhe am anderen Ende des Raumes, in der er eine Hose und ein sauberes Hemd fand. Beides zog er unter großer Anstrengung an, stützte sich dann schweißgebadet einen weiteren Moment an der Wand ab, um auszuruhen. Die lange Bettruhe hatte ihn sämtlicher Kräfte beraubt. Conn lachte. Alik wäre sicherlich zu einem anderen Schluss gekommen. Gewiss, gewiss, er sollte noch nicht auf sein.
Der polierte Metallspiegel im vorderen Gemach warf ihm ein erbärmli­ches Ebenbild entgegen: kreidebleich und spindeldürr war er. Seine Kleider schlotterten um ihn herum, und ganz gleich, wie er sich bewegte, jede Geste, jeder Schritt schien linkisch. Er warf sich den dunkelroten Morgenmantel über, der seiner schon seit Wochen harrte und von unsichtbarer Hand staub­frei gehalten wurde, streckte einen Arm von sich, stemmte den anderen in die Hüfte und betrachtete sich erneut. Diese Person fand schon eher sein Gefal­len. Er schüttelte den Kopf und die schwarzen Locken fielen ihm in die Stirn. Die schwarzbraunen Augen – er wusste oft selbst nicht zu erkennen, wo die Pupille endete und die Iris begann -, blickten misstrauisch auf die alten Nar­ben, die seine linke Gesichtshälfte vom Auge bis zum Kinn gräss­lich ent­stellten.
Ælfwen hatte dem Barbier aufgetragen, seinen Bart, das struppige Un­getüm, wie sie es nannte, ganz abzunehmen. All sein Protest hatte ihm nichts genutzt und die ganze Bescherung war einmal mehr zutage getreten. Und nicht zum ersten Mal hatte Alik lange Zeit darauf verwendet, die Narben zu untersu­chen und Fragen zu stellen. Hatte er noch Schmerzen? Juckten oder pochten sie? Verän­derten sie Farbe oder Größe? Nein, nein, nein. Schließ­lich war es schon einige Jahre her, seit er sie sich eingehandelt hatte.
Conn runzelte die Stirn. Das ge­naue Jahr konnte er nicht bestimmen. Zu wild war die Zeit zwischen seinem elften und sechzehnten Geburtstag ge­wesen. Der junge Prinz grinste. Seine Erinnerung begann schon, die un­angenehmen Erfahrungen, die er auf seiner Wanderschaft gemacht hatte, auszublenden.
Conns Hände zitterten und er senkte sie wieder.
Dumpfer Lärm erregte seine Neugier. Das klang nach Pferden im Burghof, vielen Pferden. Vielleicht war die Prinzessin Alanna schon früher als erwartet eingetroffen!
Conn stürzte aus dem Zimmer und lief mit wehendem Mantel hinüber in den anderen Flügel, um aus dem Fenster hinunter auf den Hof schauen zu können. Er hatte die Prinzessin der Thanmark, eine Freundin aus Kin­der­tagen, seit Jahren nicht gesehen und wollte ihr zur Begrüßung zuwinken. Doch was sich seinen Augen bot, war keineswegs die Ankunft einer Prinzes­sin. Sein Bruder Kye hob gerade die Hand, worauf sich der Zug der Ritter, die den Hof füllten, in Bewegung setzte. Neben Kye ritten seine Mutter, Ælfwen, und Alik, sein Erzieher.
Zornesröte stieg Conn ins Gesicht. Dass sie einfach davonritten, ohne ihm Bescheid zu geben! Den ernsten Gesichtern nach zu urteilen war etwas Schlimmes vorgefallen und er würde herausfinden, was es war. War er nicht in Abwesenheit seiner Mutter und seines Bruders Herr über diese Burg? Wer immer ihn hier aufgrund seiner Verletzungen vertrat, wusste, was vorgefal­len war, und würde Auskunft geben können – ach was, können - müssen! Dafür würde er schon sorgen!
Der junge Ritter rief vergeblich nach seinem Diener. Wahrscheinlich war der dumme Kerl wieder irgendwo eingeschlafen. So schnell er eben ver­mochte, lief er durch die langen Korridore. Bedienstete und Hofdamen wichen ihm ängstlich aus, was Conn eine gewisse Genugtuung gab. Sie hat­ten von seinen Taten gehört und von seinem aufbrausenden Wesen und be­gegneten ihm nun endlich mit dem nötigen Respekt. Er grinste böse.
Mit eisernem Willen unterdrückte er einen aufkommenden Schwindel­anfall und stürmte weiter vorwärts. Man hatte ihn bei einer wichtigen Unter­nehmung zurückgelassen und irgendjemand würde dafür bezahlen. Er war nicht wählerisch!
Tür um Tür öffnete sich und schließlich stand er vor Ællinc, dem Haus­hofmeister, den er in seiner Kindheit gefürchtet hatte. Aber das war mal …
„Was soll denn das bedeuten? Man stiehlt sich aus dem Haus, ohne sich zu verabschieden!“, bellte er bei seinem Eintreten.
Der Angesprochene fuhr aus seinem Sessel hoch und er­starrte.
„Ihr seid auf, Herr?“
„Offensichtlich“, erklärte Conn kalt.
Er hatte sich wohl doch ein wenig zu viel zugemutet. Seine Knie zitter­ten, schwarze Punkte kreisten vor seinen Augen und Wut und Schwäche kämpf­ten um die Vorherrschaft über seinen Körper. Er nahm Platz, griff sich das Papier, an dem der grauhaarige Mann gerade geschrieben hatte, und heu­chelte Interesse. Es handelte sich um Auflistungen des Burghaushaltes.
Conn staunte über die enormen Summen, die die Bewirt­schaftung der Burg allmonatlich verschlang. Doch er sollte sich nicht ablen­ken lassen!
„Ich warte noch immer auf eine Antwort!“, knurrte er, ohne dabei aufzu­schauen. „Was ist vorgefallen?“
„Die Braut Eures Bruders wird früher als erwartet eintreffen. Prinz Kye und die Königin sind ihr entgegengeritten, um sie zu begrüßen und sicher zur Burg zu geleiten“, erklärte Ællinc, doch Conn wusste nur zu gut, dass der Alte log. Dies war kein fröhlicher Brautzug gewesen.
Er hätte den Mann zwingen können, ihm Auskunft zu geben. Aber es gab zum Glück auch noch andere Wege, die Wahrheit herauszubekommen. Nichts verbreitete sich so schnell wie schlechte Neuigkeiten.
„Dann ist ja alles in bester Ordnung“, sagte er barsch und versäumte es nicht, dem Haushofmeister einen eisigen Blick zuzuwerfen. Dann zog er un­verrichteter Dinge wieder ab.
Der Zufall wollte es jedoch, dass just in dem Augenblick, da er die Stube verließ, einer der Boten der Thanmark auf dem Weg zum Haushofmeister waren und Conn geradewegs in die Arme lief. Sie erkannten sich als alte Be­kannte wieder und begrüßten sich herzlich, wenn auch die Wieder­sehens­freude aus unterschiedlichen Gründen getrübt war.
Celdricks Sohn reagierte blitzschnell. „Ist es nicht furchtbar?“, fragte er betroffen, denn dass es Anlass zur Betroffenheit gab, war ja schon den erns­ten Mienen und der schweren Bewaffnung zu entnehmen gewesen.
„Das ist es fürwahr“, stimmte ihm sein Gegenüber zu.
Conn versuchte, sich auf dessen Namen zu besinnen, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Er legte dem Mann aus der Mark einen fürsorglichen Arm um die Schultern.
„Ich begreife immer noch nicht, wie es geschehen konnte“, ermunterte er ihn ein wenig. Verdammt, wie heißt der Kerl bloß?!
Der Bote zuckte mit den Achseln. „Genaues wusste man noch nicht, als der König uns sandte. Fest steht nur, dass Alanna urplötzlich aus dem Kreise ihrer Damen verschwunden war und in der Ferne um Hilfe schrie. Dabei ver­sicherten alle, dass sich niemand der Prinzessin auch nur auf hundert Schritt genähert habe. Die Königin vermutete zunächst ein Komplott am Hofe, aber König Tholand argwöhnt, dass man sie nach Norregaard verschleppt hat …“
Conn ballte die Fäuste und nickte abwesend. Norregaard, natürlich! Des­wegen hatte ihm auch niemand ein Sterbenswort verraten. Er hatte schon ge­ahnt, dass das dicke Ende noch kommen würde. Was ihm in Norregaard ge­lungen war, würde ihm keiner so schnell nachmachen. Sogar sein Vater hatte die Tat gelobt, auch wenn Celdrick ihm niemals einen Auftrag gegeben hatte. Doch des Wikingerkönigs Rache schien nicht lange auf sich warten zu lassen.
„Wo sagtet Ihr, ist es geschehen?“, forschte Conn weiter.
„Wir hatten Leven schon erreicht und den Fluss überquert.“
Würde sich eine Horde Nordmänner soweit nach Süden vorwagen, wenn der Weg aus der Thanmark nach Morad weiter nördlich unweit der Grenze zu Norregaard verlief und zu einem Überfall dort beinahe einlud? Conn ver­mochte es nicht zu sagen. Fest stand jedoch, dass wohl niemand damit ge­rechnet hatte, dass der Brautzug überfallen würde, nachdem er Dhurian durchquert hatte und sich bereits auf dem Gebiet Levens befand.
„Und was gedenken Tholand und mein Bruder – Ihr habt sie sicher beide gesprochen -, nun zu unternehmen?“, fragte Conn schließlich rau und ahnte die Antwort schon.
„Sie werden die Herausgabe der Prinzessin verlangen. Notfalls unter Waf­fengewalt“, bestätigte der Bote seine Vermutung.
Conn vermeinte, das Herz müsse ihm stehen bleiben. Wenn der König der Thanmark sich tatsächlich zu einer solchen Unternehmung hinreißen ließ, würde es einen langen, furchtbaren Krieg geben. Dieser Zug gegen Norre­gaard musste unter allen Umständen verhindert werden. Zwar würde Alik zur Besonnenheit raten, doch Tholand war berüchtigt für seine oft vor­schnelle Handlungsweise und nicht immer durch vernünftige Worte zur Um­sicht zu bewegen.
Bereits tief in Gedanken versunken, nickte Conn. „Wir sehen uns dann später.“
Damit ließ er den Mann einfach stehen. Er spürte noch den verdutzten Blick in seinem Rücken, während er sich selbst dazu gratulierte, dass er Ællinc nach all den Jahren endlich einmal ausgetrickst hatte.
In Norregaard hatte man kein Interesse an der Prinzessin. Hinter ihm waren sie her. Er hatte eines der größten Geheimnisse des Wikingerstaates aufgedeckt, das den derzeitigen König leicht stürzen konnte, wenn es den richtigen Männern zu Ohren gelangte, und das konnte nicht ungesühnt blei­ben. Wenn er sofort aufbrach, konnte er Kye und Tholand noch zuvorkom­men. Vielleicht würde es ihm gelingen, Alanna auszulösen, und hieße das auch, seinen eigenen Kopf hinzuhalten. Einen Krieg gegen die Nordmänner konnte sich Morad im Moment nicht leisten.
Er beschleunigte unwillkürlich seine Schritte.Warme Kleidung brauchte er. Im Norden herrschte noch immer Winter. Ein Packpferd, das einen Schild und Vorräte tragen konnte, musste her, außerdem verschiedene Schriftstücke, die ihm die Weiterreise erleichtern mochten. Irgendwo bei seinen Sachen, die sie ihm aus dem Grenzgebiet nachgeschickt hatten, musste sich noch der Brief befinden, den sein Vater ihm damals mitgegeben hatte. Er enthielt auch eine weiße Papierrolle mit der Unterschrift und dem Siegel des Hohen Königs. Sie würde ihm nun gute Dienste leisten.
Conn erreichte sein Gemach und ertappte seinen Diener, der mit dem Spiegel einen Strauß auskämpfte.
„Da bist du ja endlich!“, stellte er ungnädig fest und der errötende Knabe steckte das Schwert seines Herrn eilig zurück in die Scheide. „Geh und mache den Aufenthaltsort des Herrn Cæwyn aus! Er soll sich umgehend bei mir einfinden.“
Conn setzte sich mit Feder und Tinte am Tisch nieder und begann einen Brief aufzusetzen, der ihn als Botschafter des Hohen Königs auswies. Die Niederschrift bereitete ihm Mühe und die Zunge arbeitete mit. Während seines langen Aufenthaltes im Feindesland hatte er so gut wie gar keine Ge­legenheit gehabt, sich im Schreiben zu üben.
Gerade als er zu einer zweiten Rolle griff, um seinen Vater über seine Vermutungen in Kenntnis zu setzen, trat Cæwyn ein. Conn begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln und wies ihn mit einer Handbewegung an, sich zu setzen.
„Du hast gehört, was passiert ist?“, erkundigte er sich, während er sein Schreiben beendete.
Aus den Augenwinkeln sah er den jungen Mann nicken. Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit waren die Eigenschaften, die er schon in der Kindheit an dem Freund geschätzt hatte. Cæwyn war einer der vielen Bastarde Celdricks, der Sohn einer Küchenmagd, die einst die Aufmerksamkeit des Hohen Königs erregt hatte. Sie waren in derselben Nacht geboren worden und unzertrennlich gewesen, bis Alik ihn, Conn, schließlich mit sich ge­nommen hatte. Doch auch seine lange Abwesenheit hatte nichts an ihrer Freundschaft geändert. Conn stellte es erleichtert fest, als er die Feder weg­gelegt und sich zu Cæwyn umgedreht hatte. Der Freund erwartete seine Be­fehle, bereit, mit ihm durch dick und dünn zu gehen.
„Wir werden noch heute Nacht nach Norregaard aufbrechen! Zwei Reit­pferde, zwei Packpferde, Vorräte für vier Tage – das sollte genügen. Wenn es dunkel ist, treffen wir uns bei den drei Kastanienbäumen an der Weg­kreuzung.“
Conn las bereits aus dem besorgten Blick, was der Freund sagen wollte, und antwortete auf die unausgesprochene Frage: „Nein, Cæw, ich bin noch nicht ganz gesund. Gerade deshalb sollst du mich begleiten. Die Sache dul­det leider keinen Aufschub.“
Der junge Prinz seufzte. Bis Sonnenuntergang war noch viel zu erledi­gen. Er siegelte den für seinen Vater bestimmten Brief mit seinem privaten Siegel und händigte ihn dem Halbbruder aus.
„Sende einen Mann deines Vertrauens umgehend damit nach Jasmonit, damit Celdrick im Bilde ist, wenn er hier eintrifft. Wir treffen uns dann bei den Kastanien.“
Im Kopf ging er noch einmal alles genau durch. Bestimmt war ihm irgendetwas Wichtiges entfallen. Aber auf Cæwyn war schließlich Verlass.
Conn fühlte sich plötzlich sehr elend. Jetzt, da der erste Schritt getan war, kehrte die Schwäche wieder zurück in seine Glieder. Er würde sich einen Augenblick hinlegen, eine Stunde vielleicht.

Der erste Teil ihres Planes war in die Tat umgesetzt. Jetzt begann das Warten. Sie wusste, er würde kommen. Nach allem, was sie über den Bas­tard in Erfahrung gebracht hatte, würde er nicht anders können, als zu ver­muten, die Nordmänner stünden hinter der Entführung. Er würde den Schutz der Burg, in den er sich geflüchtet hatte, wieder verlassen, um die Ange­traute seines Bruders – Grundgütige, was für eine Gans sie doch war! -, zu retten, auch wenn er dafür den eigenen Kopf in die Schlinge stecken musste. Viel­leicht sollte sie tatsächlich abwarten, ob Svarvar Flachsbart ihn nicht doch zu Ehren des einarmigen Wikingergottes hängen würde.
Sie schüttelte den Kopf.
Nein, es war besser, ihm unterwegs in den Wäldern aufzulauern, wo der Schnee alle Spuren zudeckte. Wenn man ihn finden würde, wäre der Früh­ling schon fast vorbei und Levens Mörderin sicher hinter den Wällen ihrer heimatlichen Burg verschwunden.
Ein Seufzer entfuhr ihr. Der Bann dauerte jetzt zweihundert Jahre. Sie war fast noch ein Kind gewesen, als sie aus Madran vertrieben worden war. Nicht grund­los, aber gewiss zu Unrecht. Das Buch gehörte ihm nicht.
Nun lächelte sie wieder. Er sollte nicht denken, die Angelegenheit sei damit erledigt, dass er sie wieder zu sich auf die Burg nahm, nachdem sie den Bastard getötet hatte. Sie hegte ein ebensolches Interesse am Besitz dieses Buches wie er. Er hatte es zwar gebannt, doch er konnte es nicht be­nutzen. Der Weg dazu führte über sie und ausschließlich über sie. Sie ver­fügte über das Mittel, sich das Buch dienstbar zu machen. Sie hatte eine Freundin.
Aber zuerst war Leven dran …